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Rassismus und sexualisierte Gewalt bekämpfen

Nachbetrachtung zur Debatte um die Silvesternacht in Köln

Aktuell hat die konservative und rechtspopulistische Ecke ihr Ventil gefunden: Sie nutzt die sexistischen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht, um gegen Migrant_innen und Geflüchtete zu hetzen. „Ein Anschlag hätte den Stoff der nationalen Aufregung ebenso liefern können, ein Kindsmord, irgendeine andere Tat“, wie die Zeitschrift Spiegel schreibt (Heft 2/2016, S. 11). Es brodelt. Rechte machen Stimmung, Anschläge – und morden sogar. Ihr Einfluss reicht bis weit in die Politik, wie sich etwa an PEGIDA in Sachsen zeigt; durch die Wahlerfolge der rechtsextremen AfD wird dies in den Landesparlamenten noch deutlicher. Gerade durch die institutionellen Verstrickungen und die gesellschaftliche Bagatellisierung der mittlerweile täglichen rassistischen Übergriffe auf als migrantisch zugeschriebene Menschen und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte führen dazu, dass mittlerweile – und man muss es so deutlich zur Kenntnis nehmen – in immer stärkerem Maße die demokratische und rechtstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland gefährdet ist. Argumentationen, die nach Anschlägen auf Geflüchtete und Flüchtlingsunterkünfte, die Täter_innen entschuldigend mit einem „die Deutschen seien aktuell so gefordert“ agieren, führen zur Umkehr der Rechtsauffassung. Nicht die Brandstifter_innen und Attentäter_innen seien demnach die Verbrecher_innen, sondern Geflüchtete wären das Problem. Und es werdenaktuell mühsam erkämpfte Regelungen einfach übergangen, wie die Regelungen des Antidiskriminierungsgesetzes, die es verbieten, dass Menschen etwa rassistisch in Gruppen sortiert und nicht in Diskotheken oder Schwimmbäder eingelassen werden.

Bei der Stimmungsmache gegen Geflüchtete und Migrant_innen ist Sexualität ein von Rechten bzw. insgesamt zur Durchsetzung von Herrschaft gern genutztes Motiv. Sehen wir auf rassistische und koloniale Politiken – auch der vergangenen Jahrhunderte – so finden sich in den europä­ischen Beschreibungen des kolonialisierten und rassifizierten „Anderen“ zahlreiche sexuelle Motive, besonders verbunden mit Arabien. Die zwei Hauptmuster: 1) Arabische Männer wurden europäisch als besonders „verweiblicht“ und „passiv“ zugeschrieben; der Umgang der Männer untereinander sei sehr und zu nah. (Vgl. Said 2003 [1978]) 2) Parallel zum Motiv der „Verweiblichung“ verläuft eines, das eigentlich entgegengesetzt erscheint: Arabische Männer seien besonders aktiv, bedrohlich, promisk, übergriffig. (Vgl. Yılmaz-Günay [Hg.] 2014: u. a. 27f; Bauer 2011: 268-311) Diese beiden Zuschreibungen werden von Weißen auf „Arabien“ angewendet, auf „den Islam“, insgesamt auf Personen of Color. Beide Argumentationsmuster zeigen sich auch in kurzem Abstand in aktuellen Debatten: So wurde in der Debatte um die Vorhautbeschneidung, von Personen der weißen Dominanzkultur das erste Motiv betont: Die Eichel religiös beschnittener (muslimischer und jüdischer) Männer sei durch die Vorhautbeschneidung weniger empfindsam und das sexuelle Vermögen dieser Männer sei daher stark eingeschränkt (zu dieser Debatte kritisch: Çetin/Voß/Wolter 2012). Das war 2012. 2015 und 2016 wird hingegen das zweite Mo­tiv – das besonders großes sexuelles Verlangen und Übergriffigkeit zuschreibt – bemüht. Rechte Argumentationen sind anpassungsfähig.

Frauen werden in dieser Argumentationsweise instrumentalisiert. Wäre die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt politisch ein echtes An¬liegen, dann wären die Zahlen, dass 30% der Frauen in Deutschland in ihrem Leben bereits von Gewalt betroffen waren und knapp 60% der Frauen bereits sexuelle Nötigung erlebt haben, Anlass genug, um nachdrücklich politisch und gesellschaftlich etwas gegen sexualisierte Gewalt und gegen Sexismus zu machen. Auch wären Frauennotrufe und Beratungsstellen für von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen nicht ständig von finanziellen Kürzungen bedroht.

Auch keine Skandalisierung wert waren über Jahre hinweg die sexuellen Übergriffe allabendlich bei Partys sowie die bei Karnevals und auf dem Münchner Oktoberfest. Zu Letzterem: Jährlich – und die Vereine zur Opferberatung Amyna, Imma, Frauennotruf, ’sichere Wiesn‘ sprechen von einer Zunahme – kam es dort zu 4 bis 6 bei der Polizei angezeigten vollendeten Vergewaltigungen und unterstützten die Vereine etwa 150 bis 200 Frauen, die von sexuellen Übergriffen oder weiteren Delikten betroffen waren. Diese Delikte führten nicht zum bundesweiten Skandal – aber auf dem Oktoberfest waren eben in aller Regel mehrheitsdeutsche Biertrinker die Täter. Doch just als Stefanie Lohaus und Anne Wizorek in ihrem Beitrag „Die Rape Culture wurde nicht nach Deutschland importiert – sie war schon immer da“ (Lohaus/Wizorek 2016) nun auch diese Übergriffe in München skandalisierten und einforderten, dass die Thematisierung sexualisierter Gewalt nicht rassistisch geführt werden darf, dementierte die Polizei die von den Autorinnen verwendeten Zahlen vom Oktoberfest. Im Jahr 2009 habe es nicht zehn, sondern „nur sechs“ bei der Polizei angezeigte vollendete Vergewaltigungen gegeben (wobei die Hilfsvereine stets von einer höheren Dunkelziffer sprechen, weil Anzeigen von sexualisierter Gewalt bei der Polizei mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet sind). Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte sogleich „Lügenzahl vom Oktoberfest“ (Meyer 2016), anstatt die Gelegenheit zu nutzen, insgesamt sexualisierte Gewalt – auch diejenige, die von Männern der weißen, der Dominanzkultur begangen wird – zu thematisieren.

Ja, sexualisierte Gewalt muss thematisiert werden. Aber eben nicht nur, wenn sie von als migrantisch zugeschriebenen Männern ausgeht, sondern auch wenn sie von Männern der Dominanzkultur ausgeht. Die besondere Fokussierung auf Köln und die daran anknüpfende Debatte rassifizierte sexualisierte Gewalt. Durch die Art der Thematisierung wird die von weißen Männern begangene sexualisierte Gewalt unsichtbar gemacht. Auch nicht bzw. kaum thematisiert wurde und wird weiterhin die aktuelle rassistische Gewalt, wie sie sich derzeit massiv in Deutschland zeigt (eingangs im Beitrag thematisiert) und wie sie im Januar in Köln stattfand, wo sich Rechtsradikale (die „Türsteher“) zusammenrotteten, um die Männer zusammenzuschlagen, die sie als migrantisch wahrnahmen.

Ableitungen:

Die aktuelle Debatte nutzt von sexualisierter Gewalt Betroffenen nicht. Es wird ein Problem rassifiziert, das die gesamte Gesellschaft und gerade alle deutschen Männer angeht, diejenigen, die in Deutschland geboren sind und die, die erst kürzer in Deutschland sind. Aktuell wird hingegen die sexualisierte Gewalt von Mehrheitsdeutschen unsichtbar gemacht – sie erhalten einen „Persilschein“ nicht übergriffig zu sein.

Die rassistische Prägung der aktuellen Debatte begünstigt rassistische Gewalt. Sexuelle Gewalt und rassistische Gewalt überlagern sich viel¬fach – und so ist es nötig, dass die Konzepte von Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität, wie sie in Deutschland von LesMigras (www.les¬migras.de), von GladT (www.gladt.de, u.a. Projekt HEJ – Handreichungen für emanzipatorische Jun¬genarbeit) und von I-Päd (www.ipaed.blogsport. de) entwickelt wurden, deutlich in politische und (sexual-)wissenschaftliche Konzepte eingehen.

Konkret zu Köln: Es kommt erst einmal auf nüch¬terne (und nicht kurzatmige) Analyse an. Hier ist die Perspektive von Feministinnen of Color und rassismuskritischen weißen Feministinnen wichtig, die darauf schauen, was in der Kölner Silvesternacht tatsächlich stattgefunden hat. Die Aufarbeitung darf nicht bei den Männern der Dominanzkultur aus den Parteien, dem Innenministerium oder bei den Türstehern liegen, die jetzt schon sehr eilig Asylverschräfungen fordern oder „groß aufräumen“. Die größte Expertise liegt bei den Vereinen, die bereits mit intersektionalen Konzepten arbeiten, also zu Rassismus und Ge¬schlechterverhältnissen gleichermaßen.

Sexualisierte Gewalt muss nachhaltig angegangen werden. Das bedeutet, dass ein politischer Wille auch im von Männern dominierten Bun¬destag und in den von Männern dominierten Parteispitzen nötig ist, Präventionskonzepte auf den Weg zu bringen, anstatt stets und stetig bei den Praxisprojekten – wie den Frauennotrufen – einsparen zu wollen. Es muss eine gute – und auch intersektional geschulte [!] – flächendeckende Praxislandschaft entstehen. Und es muss eine flächendeckende gute sexualwissenschaftliche Forschungs- und Ausbildungslandschaft entstehen. (Bisher gibt es nur einen einzigen konsekutiven sexualwissenschaftlichen Studiengang im gesamten deutschsprachigen Raum!)

Gleichzeitig darf man vor lauter Prävention auch nicht das Ziel aus den Augen verlieren: Es geht um eine selbstbestimmte geschlechtlich-sexuelle Entwicklung und Betätigung (bzw. auch Nicht- Betätigung) von Menschen und es geht darum, dass Sexualität als positive Kraft vermittelt wird, vor der mensch keine Angst haben soll, aber verantwortlich mit der eigenen Sexualität und grenzachtend gegenüber der anderer umgeht.

heinz-jürgen voß | loxxel@web.de

Literatur:
Bauer, Thomas (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag.
Çetin, Zülfukar/Voß, Heinz-Jürgen/Wolter, Salih Alexander: Interventionen gegen die deutsche „Be-schneidungsdebatte“. Münster: Edition Assemblage.
Lohaus, Stefanie/Wizorek, Anne (2016): Die Rape Culture wurde nicht nach Deutschland importiert – sie war schon immer da. (Zugriff: 30.1.2016).
Meyer, Rainer (2016): Lügenzahl vom Oktoberfest. (Zugriff: 30.1.2016).
Said, Edward W. (2003 [EA 1978]): Orientalism: Western Conceptions of the Orient. London: Penguin Classics.
Yılmaz-Günay, Koray (2014): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre „Muslime versus Schwule“. Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001. Münster: Edition Assemblage.

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